Klaus Littmann hat schon des Öfteren mit aufsehenerregenden Grossprojekten im öffentlichen Raum von sich reden gemacht. Deshalb überrascht das neue Projekt des Basler Kunstinitiators zunächst: Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Ausstellung «The Mass Is Ended» um eine konventionelle Fotoausstellung. Doch anstelle eines herkömmlichen Ausstellungsraums nutzt Littmann für die Werkschau des italienischen Fotografen Andrea Di Martino die katholische Kirche Don Bosco.

Andrea Di Martino fotografierte im Lauf der letzten zehn Jahre italienische Kirchen, die nicht mehr in sakralem, sondern in weltlichem Gebrauch sind. Heute werden die Bauten für alle möglichen und unmöglichen Tätigkeitsfelder genutzt. So erkennt man staunend eine Autowerkstätte, einen Secondhand-Shop, einen Showroom für Fliesenböden oder – ironischerweise – einen Saal für standesamtliche Hochzeiten, um einige der eigenwilligeren Beispiele zu nennen. Dass Littmann die Fotografien in einer Kirche zeigt, die noch in diesem Jahr säkularisiert werden soll, liegt damit auf der Hand. Der dreisprachige Katalog birgt Abbildungen der 50 in der Ausstellung gezeigten Fotografien und enthält Texte von Guido Magnaguagno, früher Direktor im Museum Tinguely, heute freischaffender Kurator, sowie dem ehemaligen Münsterpfarrer Franz Christ.

Klaus Littmann situiert seine Kunstaktionen gern in Räumen, die er zur Zwischennutzung verwenden darf. So entstand letztes Jahr beispielsweise die Canal Street. Diese gänzlich von Künstlerhand errichtete Strasse erwächst ­derzeit in einer alten Lagerhalle in Arlesheim und bezieht sich auf die Kunst- und Kulturgeschichte von Dada und Surrealismus bis heute.

Verblüffend echt

Die Tendenz, Räumen eine neue Funktion zu verleihen, zieht sich wie ein roter Faden durch das kuratorische Schaffen Littmanns. Als besonders fruchtbar erwies sich die Zusammenarbeit mit dem 1946 in Antwerpen geborenen Installationskünstler Guillaume Bijl. 1990, Klaus Littmann war damals als Galerist tätig, funktionierte Guillaume Bijl die Galerie Littmann an der Elisabethenstrasse 44 in einen Supermarkt um – selbst die Galeriebeschriftung musste dem Titel «Neuer Supermarkt» weichen. Das Resultat war so durchdacht und lebensnah, dass sich unter die eingeweihten Galeriebesucher immer wieder Leute mischten, die einkaufen wollten, wofür die Installation natürlich nicht gedacht war.

Sechs Jahre später kam es zu einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Littmann und Bijl. Diesmal engagierte der Kunstinitiator ausserdem die beiden Schweizer Künstler Enrique Fontanilles und Peter Knapp. In Anlehnung an den EuroAirport schlug Bijl vor, den Raum in eine Abflughalle umzumodeln.

Littmann und das Künstlertrio setzten die Idee wiederum verblüffend echt um, indem sie sie konsequent durchkonzipierten: eigenes Logo, Gepäcketiketten und speziell entworfene Tischsets, typische Flughafen-Signaletik inklusive funktionierenden Abflugtafeln, Werbeflächen und Verkaufsvitrinen, gefüllt mit Markenartikeln von bekannten Modehäusern und Uhrenherstellern, Check-in-Desks und vieles mehr. ­Guillaume Bijls Installationen sind konstruierte Wirklichkeiten. Er empfindet Supermärkte nach und andere Verkaufsflächen wie Matratzen- und Lampenläden, Fitnessräume oder Reise­büros, ohne dass sie eins zu eins mit der Realität übereinstimmen. Dies unterscheidet ihn von der Appropriation Art und versetzt ihn zugleich in die Sparte der Konzeptkunst.

Mit seinen Orten, oder Nicht-Orten, wo Menschen im Alltag aufeinandertreffen, ohne dass ein eigentlicher Austausch stattfindet, will Bijl darauf aufmerksam machen, wie durchkomponiert unser Leben ist, und wie sehr wir uns an Konventionen und institutionalisierte Lebensformen halten, uns unterordnen, beinahe roboterartig. Der deutsche Kunstkritiker Ludwig Seyfarth beschreibt die von Guillaume Bijl rekonstruierten Orte als zutiefst ironische Nachahmungen kultureller Einrichtungen, die in ihrer statischen und lebensleeren Art unseren Alltag prägen. Indem Bijl die diversen Situationen einfriert, das Publikum nicht real einkaufen oder an Sportgeräten trainieren lässt, ­werden seine gefälschten Realitäten zu dreidimensionalen Bildern unserer Gesellschaft. Der Zuschauer gewinnt Abstand zu seinen Lebensgewohnheiten sowie jenen seiner Mitmenschen und wird eingeladen zu reflektieren.

Klaus Littmann wird gern mit Kunst assoziiert, welche die Wahrnehmung steigert. In der oben erwähnten Canal Street spielt er ebenfalls mit diesem Konzept, wenn auch in anderer Form. Der Attrappencharakter der Strasse ist sehr viel evidenter als bei Bijl, doch das Besondere daran ist, dass quasi im ­Nirgendwo und vom Dach einer Lagerhalle überdeckt, überhaupt eine Strasse zum Leben erweckt wird. Sie mutiert zum Spielplatz von Künstlern und Kunstliebhabern und wirft Fragen auf zur Bedeutung von Themen wie Urbanität, Gesellschaft, Religion oder Kulturen.

Auch das Real Fiction Cinema, erstmals im Jahr 2011 von Littmann inszeniert, beschäftigt sich mit Wahrnehmung – und zwar in seiner poetischsten Variante: Wenn der Besucher in der mobilen Kinobox Platz nimmt, trifft sein Auge nicht auf eine Kinoleinwand, sondern auf ein rechteckiges Loch in der Wand. Der Kinogänger wird so zum Zuschauer des realen Lebens, das sich ausserhalb des geschützten Raums abspielt. Die musikalische Unterstreichung des niederländischen Performancekünstlers Job Koelewijn (geboren 1960) verzauberte die Erfahrung, den Schauplatz Leben für einmal bewusst zu betrachten, denn immer wieder schien die Musik geradezu synchron mit Alltagsszenen zusammenzufliessen.

Wahrnehmung und Veredelung

Mit seinen Kunstprojekten reiht sich Littmann ein in eine Serie von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich ebenfalls dem faszinierenden Thema der Wahrnehmung verschrieben haben. Zu den bekannteren gehört beispielsweise Jeff Koons, der Kitschobjekte oder Ballonfiguren, gleichsam niedliche Nebensächlichkeiten, im wahrsten Sinne des Wortes aufbläst und durch eine Veredelung des Materials in andere Sphären erhebt. Die im Schaulager vertretene deutsche Künstlerin Katharina Fritsch (geboren 1956) arbeitet ebenfalls mit Objekten, die sie meist in vergrössertem Massstab nachbildet. Nur Farbgebung und Material sind gänzlich verschieden und manipulieren damit die Wahrnehmung des Publikums – pechschwarze oder knallgelbe Madonnenskulpturen, wie man sie der Form nach gewöhnlich in katholischen Kirchen antrifft, gehören beispielsweise in ihr Repertoire.

Thomas Demand (geboren 1964) rekons­truiert fotografierte Szenen aus Papier und lichtet diese erneut ab. Erst das genaue Hinsehen verrät, dass es sich um nachgebaute Objekte handelt. Meist arbeitet Demand mit Bildern, die in der internationalen Presse zirkulieren. Die bekannten Schweizer Künstler Fischli und Weiss zählen ebenso zu den Wahrnehmungskünstlern wie der Japaner Tazro Niscino (geboren 1960), der es im Rahmen eines Littmann-Projekts 2002 fertigbrachte, dass Kunstinteressierte dem Basler Münsterengel auf dem Münsterdach gegenübertreten konnten.

Klaus Littmanns jüngstes Projekt zeigt auf, wie geheiligte Räume für Alltagsfunktionen umgenutzt werden. Wie bei Bijl sieht man keine Menschen in den ehemaligen Kirchen – die Situationen wirken statisch. Einige erheitern, andere begeistern, wieder andere wecken Bedauern, wie mit Geschichte umgegangen wird. Eines ist sicher: Die Fotografien spielen, ganz im Sinne von Klaus Littmanns bisherigem Schaffen, mit der Wahrnehmung und regen zum Denken und Diskurs an.

Von Judith Opferkuch

«The Mass Is Ended». Kirche Don Bosco, Basel. Fr 12–18 Uhr, Sa 11–17 Uhr, So 13.30–16 Uhr.

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