Basel. Klaus Littmann macht mit seinen temporären Kulturprojekten immer wieder von sich hören und sehen. Diesmal handelt es sich um ein Projekt, das den bisherigen Rahmen weit sprengt: es dauert nicht nur einige Wochen oder Monate, sondern ist auf drei ganze Jahre angesetzt – mit der Option auf Verlängerung – und erstreckt sich über eine Fläche von 2000 Quadratmetern. Die «Central Station» befindet sich mitten in Basel, am früheren Migros-Standort in der Sternengasse.

Seit Ende April fertigt der in Belgien lebende Künstler Franz Burkhardt zusammen mit nur einem Maurer und einem Zimmermann eine autonom funktionierende Stadt an. Dazu gehören Laden- und Dienstleistungsflächen wie ein Tattoostudio oder eine Brockenstube, von Littmann selbst betriebene Kunst-Räume, italienisch inspirierte Gastronomie und sogar ein Unterrichtsraum für ein zwischen Kunst und Soziologie angesiedeltes Lehrinstitut unter der Leitung des Basler Künstlers Enrique Fontanilles.

«Central Station» wird schon bald mit Veranstaltungsprogrammen in den Bereichen Kulinarik, Kunst und Kultur aufwarten, als Filmset, Erholungsstätte oder politische Plattform fungieren. Man könnte das Projekt auch als Ort des Konsums der anderen Art auslegen. Eines haben die 14 bisherigen Laden­betreibenden nämlich gemeinsam: Sie heben sich von der Basler City ab, indem sie einen kulturell-künstlerischen Mehrwert zum gewohnten Einkaufen bieten. Littmann nennt sein Projekt auch soziale Skulptur oder begehbare Raum­installation. Der offizielle Titel aber lautet: temporäre Kunst- und Alltagskultur­intervention.

Spiel mit der Wahrnehmung

In architektonischer Hinsicht scheint die «Central Station» auf einer ähnlich logisch-ästhetischen Abfolge zu beruhen wie eine reale Stadt. Die Kunstfassaden verströmen ein klassisch-bürgerliches Flair. Franz Burkhardt, der das Strassenbild inszenierte und dauernd weiterentwickeln wird, erstellte sogar Details wie mit abgerissenen Postern verklebte Elektrokästen, eingetretene Regenrinnen oder Zigarettenautomaten. Trotz der Realitätsnähe bleibt erkennbar, dass die «Stadt» fiktiv ist. Burkhardt, der bereits beim letztjährigen Projekt «Canal Street» für die Installation verantwortlich zeichnete, sagt: «Ich wollte ein Bild gestalten, das über die Theaterkulisse hinausgeht, aber dennoch klar als Kunst erkennbar ist.»

Mit «Central Station» treibt Klaus Littmann sein bisheriges artistisches Repertoire auf die Spitze. Das in seinen Projekten stets wiederkehrende Thema der Wunderkammer ist besonders prominent. Man könnte gar so weit gehen, zu sagen, das gesamte Projekt habe Wunderkammercharakter inne: Waren die Kunst- und Wunderkammern in der Spätrenaissance noch auf Objekten basierende, möglichst vollständige Enzyklopädien, welche die Macht und das geografische Ausmass der Herrscher spiegeln sollten, hat sich der Begriff spätestens seit den 1980er-Jahren stark gedehnt.

In der Museologie steht er heute vor allem dafür, unterschiedlichste Schöpfungsformate unter einem Dach zu vereinen und einander kontrastreich gegenüberzustellen. Genau dies tut Littmann, indem er eine kunterbunte Mischung an gewerblichen, gastronomischen, ideologischen und künstlerischen Organisationen zusammenbringt – darunter auch, man ahnt es, eine Wunderkammer.

Das zweite zentrale Motiv ist jenes der Wahrnehmung. Littmann geht diesmal noch einen Schritt weiter als beispielsweise anlässlich Guillaume Bijls Installation von 1990, als er die Galeriebesucher mit einer täuschend echten Kopie eines Supermarkts konfrontierte. Selbst wenn Burkhardts Stadt-Inszenierung absichtlich als Kunst ausgelegt wird, übernimmt die «Stadt in der Stadt» doch die Funktion, eine alltägliche Situation wie den Erwerb von Gütern und Serviceleistungen aus dem realen Kontext zu heben und bewusst zu vergegenwärtigen. Und nicht nur das: Mittels der Interventionen, die Littmann unter Mithilfe seines riesigen Netzwerks ins Leben ruft, mutiert «Central Station» zu einer Mikrostadt, die zur Bühne für Aktivitäten aus dem politischen, sozialen und kulturellen Leben wird. Es gibt beispielsweise einen Ort der freien Rede, einen sogenannten Speaker’s Corner wie im Londoner Hyde Park, oder ein Open-Air-Kino. Letzteres entspräche einem Oxymoron, denn die «Central Station» ist schliesslich überdacht. Doch genau darum geht es beim Spiel mit der Wahrnehmung und führt dazu, die Institution «Stadt» immer wieder aufs Neue zu hinterfragen und von verschiedenen Seiten zu beleuchten.

Franz Burkhardt haucht der Stadt auf der bildlichen Ebene immer wieder neues Leben ein. Er malt oder klebt beispielsweise Sprüche an die Wand, die an das Luzerner Stadtoriginal Emil Manser gemahnen. Dieser bereicherte – oder verärgerte – die Luzerner während Jahren mit auf Kartons geschriebenen, philosophisch anmutenden Gedanken. So erfindet Burkhardt Sätze wie «Sprechen Tiere wirklich nur nicht, weil sie nichts zu sagen haben?»

Kreative Ladenformate

Mit dem «Salon des dessins» macht Littmann dem Publikum Zeichnungen zugänglich, die auf die Grundidee verschiedenartigster Projekte verweisen, wie zum Beispiel bau- oder elektrotechnische Skizzen, die, wie er meint, von erstaunlicher Ästhetik zeugen. In der bildenden Kunst ist der skizzenhafte Entwurf spätestens seit der Renaissance eines der grundlegendsten künstlerischen Elemente, da er gleichsam die Initialzündung eines jeden Werks verkörpert. Der «Präsentationsraum» gibt Menschen eine Plattform, die aus eigener Initiative etwas auf die Beine stellen und im «Collector’s Space» zeigt Littmann Sammlungen jeglicher Prägung.

Das Studio «Video to go» des Basler Videoproduzenten und HyperWerk-Dozenten Martin Schaffner fährt ebenfalls auf der Kunstschiene: Ein gänzlich in grüne Farbe gekleidetes Studio – eine sogenannte Green Box – dient dazu, Aufnahmen, die vor diesem Hintergrund aufgenommen werden, freizustellen und mit der gewünschten Kulisse zu hinterlegen. Als Szenerien können Disneyland oder die afrikanische Savanne dienen.

Daria Kolacka bietet kulturellen Deutschunterricht für Expats an. Sie ist Kunsthistorikerin und vor vielen Jahren aus Polen in die Schweiz gezogen. Sie weiss, wie sich Expats fühlen und wie man sich am besten in den Basler Alltag integriert. «Ich unterrichte viele Frauen, die mit ihren Männern hierhergekommen sind und plötzlich sehr viel Zeit zur Hand haben», erläutert Kolacka. Videosequenzen zum vielfältigen kulturellen Angebot oder in Basler Restaurants gedrehte Kurzfilme nutzt sie als Lehrhilfe, um Alltagsszenen zu simulieren.

In Enrique Fontanilles Institut «link tank», dessen Kern die Auseinandersetzung mit Marktsituationen ist, gibt es keine Credit Points. Wer sich bei ihm engagiert, erhält neben wertvoller Erfahrung ein Attest. Studierende des Soziologischen Instituts der Uni Basel und der Hochschule für Gestaltung und Kunst (FHNW) sind die Hauptprotagonisten seiner Schule. Sie werden die Situation innerhalb von «Central Station» analysieren und künstlerisch-intellektuell verwerten. «Das Institut wird aus Beziehungen – oder Links – Kunst generieren, sei es in Textform, als Happening oder angewandte Kunst.»

Auch Modeinteressierte können sich in der Kunststadt vertun: «Vertigo» ist ein von Vanessa del Moral und Manuela Hirt betriebenes Damenmode­geschäft. Die beiden Frauen wollen einen Kontrapunkt zum Internet-Shopping setzen, indem sie mit individueller Beratung und einer überschaubaren, auserlesenen Kollektion aufwarten. «Der zwischenmenschliche Kontakt in einer entspannten und gemütlich-intimen Atmosphäre steht im Vordergrund. Damit gedenken wir im Vergleich zu Grossanbietern wie Zalando zu punkten», sagt del Moral.

Gastronomische Wende

Auch bei «Straw», dem Degustationsladen von Thomas Merian, handelt es sich um eine Rückwendung zum Überschaubaren oder zum «Prinzip Dorfladen». Der leidenschaftliche Gastronom sagt: «Der Kunde soll wissen, woher die Lebensmittel kommen. Ich kenne sowohl die Produzenten wie auch die Inhaltsstoffe ihrer Produkte.» Auch er möchte sich für die Beratung Zeit nehmen. An einem grossen Tisch kann man nach Lust und Laune degustieren. Am liebsten mag Merian nachhaltigen Food mit einer Geschichte wie jener etwa vom Rauchlachs aus England, der mit speziellen Hölzern geräuchert würde, während der norwegische Hersteller dazu Klavier spiele.

Guy Blattmann und Julia Lauener betreiben das Restaurant Cucina, die Larry’s Bar sowie die Weinbar Mercato. Bei Letzteren dominiert sowohl äusserlich wie angebotstechnisch venezianisches Ambiente, denn sie sind zwei Bars der italienischen Kultstadt nachempfunden. Bei Larry’s Bar stimmen selbst die edlen weissen Tischtücher und das gepflegt gekleidete Personal überein. Das Restaurant wird ein Ort des Experimentierens: Privatpersonen sollen ihre Spezialitäten an den Mann oder die Frau bringen oder während eines Workshops ihr kulinarisches Wissen vermitteln. «Die drei Betriebe werden einen Kontrast zur gewohnten Gastronomie bilden», versichert Blattmann.

Vernissage:
Freitag, 9.12.16, 22 Uhr. ­Sternengasse 19, Basel, 1. Untergeschoss. Mit Opening der Larry’s Bar mit DJ Heimlich Knüller (Berlin).

www.centralstation.me

mehr zu CENTRAL STATION, Basel 2016 bis Ende 2018

Bilder