Bowies Ausflug in die Nervenklinik
Erstmals ausserhalb Österreichs zu sehen: Der unbemerkte Besuch des Musikers in der Künstlerkolonie Gugging

von Raphael Suter

Die Patienten der Nervenklinik Gugging hatten keine Ahnung, wer sie da an diesem schönen Spätsommernachmittag am 8. September 1994 besuchte. Der stille, in sich gekehrte und unauffällig gekleidete Mann sprach nur Englisch, und das verstanden sie nicht. Doch der Mann interessierte sich ganz offensichtlich sehr für ihre Arbeiten, und diese zeigten sie ihm denn auch mit Stolz.

Der Mann war David Bowie und er war nach Gugging gekommen, weil er die Menschen, die mit ihrer «Art brut» international bekannt geworden waren, kennenlernen wollte. Der Psychiater Leo Navratil hatte seine Patienten in den 1950er-Jahren zum Zeichnen angeregt. Schon bald wurde die besondere Begabung einiger Patienten offensichtlich. Die «Künstler aus Gugging» wurden plötzlich international bekannt und gehandelt. Werke von August Walla, Oswald Tschirtner und Johann Hauser finden sich heute in verschiedenen Sammlungen und Museen, darunter in der Collection de l’art brut in Lausanne.

David Bowie hatte vom Wiener Künstler André Heller von der Nervenklinik und ihren aussergewöhnlichen Bewohnern gehört. Seinen Ausflug nach Klosterneuburg in die Anstalt Gugging begleiteten der Musiker und Produzent Brian Eno sowie die Fotografin Christine de Grancy. «André Heller lud mich ohne grössere Erklärungen einfach dazu ein, mitzukommen», erzählt die heute 76-jährige Fotografin in einem Interview mit dem «Zeit»-Magazin.

Bowie näherte sich den Menschen in Gugging sehr behutsam an. Er redete wenig, machte sich dafür viele Notizen über das, was er hier sah. «Er war da nicht der Star, der grosse David Bowie, sondern konzentrierte sich voll auf den Ort und die Leute», erinnert sich Christine de Grancy. Bowie hockte sich ins Gras, um ein Wandgemälde an einem Gebäude der Klinik studieren zu können. Er liess sich Zeichnungen und Bilder zeigen und setzte sich zusammen mit Brian Eno bei Kaffee und Kuchen mit den Patienten an einen Tisch. Und irgendwann legte der menschenscheue und stets auf Distanz bedachte Musiker seinen Arm um den schizophrenen Künstler Oswald Tschirtner.

Christine de Grancy hat solche stillen Momente festgehalten. Nicht aus einem Auftrag heraus, sondern einfach weil sie ihre Leica dabei hatte. Die Aufnahmen, die ohne Blitz entstanden und in ihren Augen etwas unscharf waren, liess sie in einer Schublade verschwinden. Sie sah keinen Grund, diesen intimen Besuch der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Gruppe fuhr wieder nach Wien zurück und nur der Eintrag Bowies im Gästebuch blieb zurück.

Als der Star 2016 starb und einige Monate später seine umfangreiche Kunstsammlung versteigert wurde, fanden sich unter den Werken international hoch gehandelter Künstlern auch etliche Arbeiten der Künstler aus Gugging. Dadurch wurde Bowies Besuch 22 Jahre zuvor wieder in die Erinnerung gerückt. Christine de Grancy holte ihre bislang unveröffentlichten Fotos von diesem Nachmittag aus der Schublade und zeigte sie 2017 in einer Wiener Galerie. Littmann Kulturprojekte stellt die berührenden Dokumente jetzt erstmals ausserhalb Österreichs aus.

Heute ist der Kontext klar, weshalb Bowie nach Gugging wollte und wieso er die Art brut sammelte. In der Familie seiner Mutter gab es mehrere Fälle von Schizophrenie. Auch sein zehn Jahre älterer Halbbruder Terry Burns litt darunter und wurde im Londoner psychiatrischen Krankenhaus Cane Hill untergebracht. Von dort entfernte er sich an einem kalten Januartag 1985 und warf sich vor einen Zug. Acht Jahre später verarbeitete Bowie diese Tragödie in seinem Song «Jump They Say».

In Gugging wollte er nicht nur seinem Bruder nahe sein und ihn besser verstehen. Er und Brian Eno liessen sich von den dortigen Künstlern auch inspirieren. Im darauffolgenden Jahr erscheint das gemeinsame Album «Outside», das sich mit dem Sein ausserhalb gängiger Normen beschäftigt. Und David Bowie erklärte, dass es «aus der Atmosphäre von Gugging heraus» entstanden sei.

Zeichnen und Malen als Therapieform
Die Patienten in Gugging haben sich als Künstler international einen Namen gemacht

Unter dem Namen Landesirrenanstalt Kierling Gugging nahm das Krankenhaus für Psychiatrie 1885 seinen Betrieb auf. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurden hier mehrere Hundert Menschen ermordet, deren Leben als «unwert» angesehen wurde. Im Zuge einer umfassenden Psychiatriereform ermunterte der Psychiater Leo Navratil mit der Unterstützung des damaligen Direktors Alois Marksteiner in den 60er-Jahren seine Patienten, sich künstlerisch auszudrücken. Navratil interessierte anfänglich der diagnostische Wert der Arbeiten, doch bald entdeckte er bei einigen Patienten eine besondere künstlerische Begabung, die er förderte.

1970 fand in Wien dann die erste Ausstellung mit Zeichnungen aus Gugging statt, die grosses Aufsehen erregte und viel diskutiert wurde. Vor allem die Frage, ob psychisch kranke Menschen als Künstler gelten können. Doch der Erfolg dieser ersten Ausstellung – auch in kommerzieller Hinsicht – war so gross, dass sich Navratil angespornt fühlte, weitere Ausstellungen zu organisieren. Aus der ersten Generation der Künstler aus Gugging wurden manche zu Stars der Kunstszene, so etwa Oswald Tschirtner, der 2007 in Gugging starb, wo er seit 1954 lebte. Er zeichnete nie aus eigener Initiative heraus, sondern nur auf Anregung von Leo Navratil.

August Walla kam mit seiner Mutter nach Gugging, wo er 2001 starb. Hier hatte er sich über die Jahrzehnte hinweg seine eigene Welt geschaffen.

David Bowie lernte bei seinem Besuch in Gugging Tschirtner und Walla sowie ihr Werk kennen. Von beiden Künstlern kaufte er Arbeiten für seine Sammlung an, die 2016 unter den Hammer kam.

In der Central Station sind nicht nur Zeichnungen der ersten Generation, sondern auch der heutigen, dritten Generation zu sehen. Beispielsweise von Johann Garber. Der 71-Jährige lebte bereits bei Bowies Besuch in Gugging. Wie Walla gestaltet er auch seine Umgebung. Garbers Bilder hängen heute in verschiedenen Museen und der Künstler reist immer gerne selber zu den Ausstellungseröffnungen.

Das Gebäude, in dem die zeichnenden Patienten wohnten, wurde offiziell zum «Haus der Künstler». Später entstand die «Galerie Gugging», welche die Künstler vertritt und ihre Werke verkauft. 2006 wurde gar ein «Museum Gugging» eröffnet.

Klaus Littmann hat die Fotografien und die Kunst aus Gugging bei einem Besuch in Österreich gesehen und war von beiden gleichermassen fasziniert. In der Central Station werden in verschiedenen Räumen erstmals in der Schweiz die Fotografien von Christine de Grancy vom Besuch David Bowies in Gugging zusammen mit Werken der ersten und dritten Generation der Künstler aus Gugging gezeigt.

Basler Zeitung, 17. September 2018, Raphael Suter

Central Station, Sternengasse 19/1 UG. Basel
Öffentliche Vernissage am Dienstag, 18. September, um 18 Uhr.

Öffnungszeiten Ausstellung: DO & FR 17-21 Uhr, SA 11-17 Uhr
oder auf Vereinbarung: info@klauslittmann.com
Ausstellungsdauer: 20. September – 21. Dezember 2018

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