PARIS SANS FIN

Lithographies originale
 de Alberto Giacometti


Sammlung Carlos Gross, kuratiert und präsentiert von Littmann Kulturprojekte

„Paris sans fin“ von Alberto Giacometti –
eine Hommage an die Stadt der Städte in 150 Lithografien

Mit Caroline braust Alberto Giacometti durch die Nächte von Paris. Sie steuert den Sportwagen, den er ihr geschenkt hat. Dem Garagisten hat er den Wagen bar bezahlt, zum Erstaunen aller, die davon erfuhren. Er hat einfach ein dickes Bündel Banknoten aus seinem Jacket geklaubt und auf den Tisch gelegt. Und nun fährt diese Frau, eine 21 jährige Prostituierte mit dem bürgerlichen Namen Yvonne-Marguerite Poiraudeau, ihren roten MG durch Paris.

Giacometti (1901-1966) selbst, der die fast vierzig Jahre jüngere Caroline 1958 erstmals in einer Bar getroffen hat, sitzt auf dem Beifahrersitz. Und er ist, wie der französische Schriftsteller Franck Maubert 2012 in seinem wundervoll intimen Porträt von Caroline schreibt, „aufgeregt, hält Ausschau nach den Mädchen auf den Trottoirs. Seine Augen gehen hin und her; er bittet, anzuhalten, und Caroline parkt das Auto halb auf einem Bordstein. Mit dem Stift in der Hand zeichnet Alberto fieberhaft die Fassaden von Gebäuden, die sich zum Himmel öffnen. Seine Hand überlässt sich dem Blatt des Hefts, niemand kann ihn aufhalten. Es war, als hätte ihn ein Rausch erfasst.“

Von der Unmöglichkeit, über sexuelle Phantasmen zu schreiben, die weit in die Kindheit und in die zwanziger Jahre zurückreichen, schreibt Giacometti anfangs der fünfziger Jahre in einem seiner Notizhefte. Unter dem Titel „Incapable d’écrire le livre pour Tériade“ erzählt von den Nächten, in denen er durch Paris streifte. Herumstreunte auf der Suche nach einer Prostituierten. Die anderen Frauen hätten für ihn damals nicht existiert, schreibt er. Er wollte sie alle sehen, alle kennenlernen, und ging jede Nacht erneut auf die Pirsch.

Das Trauma des Scheiterns, das so vielen Bildern und Skulpturen Giacomettis eingeschrieben ist, begleitet auch „Paris sans fin“, das mehr noch als jedes andere Werk von Giacometti eine Schwergeburt war. Den Vertrag mit Tériade, dem aus Griechenland stammenden und in Paris berühmt gewordenen Kunstkritiker und Freund, unterzeichnete er im Mai 1959. Erschienen ist das Buch, das aus 150 hinreissenden Zeichnungen besteht, dann zehn Jahre später, drei Jahre nach Giacomettis Tod. Auflage 250 Stück.

„Paris sans fin“, das sind Strassen und Strassen, Gebäude und Kirchen, die Mädchen von Chez Adrien, der Bar, wo der Künstler verkehrte, das Atelier Giacomettis und seine Frauen, seine Annette, seine Caroline, Isabel, aber auch Diego, sein Bruder, und Tériade, auf den die Idee, so ein Buch zu verfertigen, ja zurückging. Und ein Text, der, wie es sich für Giacometti, den Zweifler, gehört, davon handelt, wie er die Lithos auswählte, sie wieder verwarf und bei dem Versuch, die vorgesehenen fünfzehn Seiten zu schreiben, scheiterte. Es wurden dann bloss neun, die erst noch in übergrosser Schrift gesetzt werden mussten.

Der eigentliche Kern des Buches, das man nicht oft genug durchblättern kann, das sind die Bilder, die das Paris Giacomettis wie in einem Film vor unseren Augen ausbreiten. Sie führen eine narrative Dimension in das Schaffen dieses Künstlers ein, wie das bei keinem anderen seiner Werke der Fall ist. Dabei zeigt sich diese Narration auf der Höhe der Zeit, insofern es sich nicht um eine lineare Geschichte handelt, sondern um eine Montage – Giacometti war ja ein grosser Freund des Kinos – von tagebuchartigen Impressionen. Von Schnappschüssen, die Giacometti meist vor Ort gemacht hat, mit dem Lithografiestift, so dass jeder Strich sitzen musste.

Aber was heisst das bei diesem Künstler, der die Suche nach dem gültigen Ausdruck wie kein anderer auf das Papier oder den Lithostein auslagerte? Da setzt er Strich neben Strich. Umkreist die Sachen mit immer neuen Strichen. Es ist, wie wenn der eine Strich, der den Gegenstand, oder das, was dieser Gegenstand im Auge des Künstler hervorruft, nicht getroffen hat, von einem anderen Strich korrigiert werden müsste. Wobei diese Korrektur dann nicht zur Verwerfung des ersten Strichs führt, der mit gleichem Recht stehen bleibt, weil das, um das es dem Künstler geht, im Dazwischen, in der Annäherung, im Ungefähren steckt.

Und so vermitteln die Parisansichten in „Paris sans fin“ etwas Hitziges oder auch Fröstelndes. Die intimen Aktbilder, die er von seinen Geliebten macht, haben etwas Fiebriges. Die Caféhausszenen etwas Träumerisches. Und die Strassenbilder, die er in Paris und auf dem Weg nach Orly zeichnet, die aus einem Film stammen könnten, holen die Geschwindigkeit des roten MG, mit dem seine Geliebte Caroline durch Paris brauste, hinein in die Kunst dieser Zeichnungen. Ja, Caroline darf man vielleicht als grosse Ermöglicherin dieses Buches be-zeichnen, als eigentlichen Katalysator, der den Knoten löste, von dem Giacometti schreibt, wenn er sich der sexuellen Phantasmagorien seiner Jugend und der atemlosen Nächte auf der Suche nach einer Prostituierten erinnert.

Christoph Heim, Mai 2018

Ausstellungsdauer: bis 29. Juni 2018
Öffnungszeiten Ausstellung: Donnerstag & Freitag 17 bis 21 Uhr, Samstag 11 bis 17 Uhr

in der CENTRAL STATION, Sternengasse 19, 1. UG, Basel


Eine einzigartige Künstlerdynastie

Erstmals widmet sich eine Biografie den fünf Giacomettis aus dem Bergell

Natürlich ist Alberto Giacometti so etwas wie das Aushängeschild der Familie. Er gilt als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, und seine Werke erzielen Rekordpreise. Und so überstrahlt er denn auch meistens die übrigen Mitglieder der Künstlerfamilie Giacometti. Dabei haben sie ebenfalls eigenständige Entwicklungen und Karrieren gemacht, die jedoch leider zu wenig wahrgenommen werden.

Ein jetzt erschienenes Buch korrigiert diesen Fehler. Der Künstler und Fotograf Peter Knapp und der Kunsthistoriker Beat Stutzer (Bündner Kunstmuseum, Museum Segantini) beleuchten erstmals in einem grösseren Rahmen das Wirken der fünf Giacomettis Giovanni, Augusto, Alberto, Diego und Bruno. Alle stammen sie aus dem kleinen Dorf Stampa im Bergell und alle sind sie auf dem Friedhof San Giorgio in Borgonovo begraben. Ihr Weg hat sie teilweise aus der Schweiz weggeführt, doch zuletzt sind sie wieder an ihrem Heimatort vereint.

Kein Interesse in der Schweiz

Eigentlich hätte das Buch auf Deutsch erscheinen sollen, doch weder in der Schweiz noch in Deutschland zeigte sich ein Verlag interessiert. So mussten die Texte ins Französische übersetzt werden Jetzt sind sie in den Editions du Chêne unter dem Titel «Les cinq Giacometti de Stampa» erschienen sind. Vernissage ist am kommenden Montag in Paris, wo im Musée Picasso gerade eine Ausstellung mit Arbeiten von Diego Giacometti gezeigt wird.

Das Vorwort im Buch über die fünf Giacomettis stammt von Marco Giacometti, dem Präsidenten der Fondation Centro Giacometti in Stampa, der ein entfernter Verwandter ist. Er selber hat sich ebenfalls stark mit der Künstlerdynastie auseinandergesetzt, die in ihrer Art weltweit einzigartig ist.

Der Stammvater der Dynastie, Giovanni Giacometti, begründete zusammen mit seinem Malerfreund Cuno Amiet den Post-Impressionismus in der Schweiz. Er selber wurde 1868 in Stampa geboren und stammte aus einer zehnköpfigen Familie. Giovanni hatte vier Kinder, die Söhne Alberto, Diego und Bruno, sowie die Tochter Ottilia, die allerdings mit 33 Jahren starb. Im Buch wird auch das Trio Hodler, Amiet und Giacometti beleuchtet, das 1898 gemeinsam in einer erfolgreichen Ausstellung im Kunsthaus Zürich zu sehen war. Giovanni Segantini half dem jüngeren Giovanni Giacometti, eine künstlerische Krise zu überwinden, und durch die Dresdner Künstlergruppe «Die Brücke» wurde er in seinem expressionistischen Stil bestärkt.

Augusto Giacometti (Jahrgang 1877) ist ein Cousin von Giovanni und wuchs auch ganz in dessen Nähe auf. Er erlangte als Künstler nicht die internationale Beachtung, die er eigentlich verdient hätte. In der Schweiz hat er sich aber mit monumentalen Wandmalerien und Glasfenstern einen Namen gemacht.

Mit über 60 Seiten räumen die beiden Autoren Alberto Giacometti (Jahrgang 1901) verständlicherweise am meisten Raum ein. Sein gesamtes Schaffen wird dabei aufgerollt, inklusive seiner Lithografien für das Buch «Paris sans fin», das Littmann Kulturprojekte zurzeit in der Central Station in einer grossartigen Präsentation vorstellt. Dieses Künstlerbuch ist übrigens ebenfalls kürzlich neu aufgelegt worden.

Gesamtkunstwerk in Paris

Diego Giacometti (Jahrgang 1902) ist für sein skulpturales Werk bekannt. Er unterstützte seinen Bruder in Paris, schuf aber selber Tausende von Skulpturen, Möbeln und Objekten. Ein Gesamtkunstwerk ist seine Einrichtung im Musée de Picasso.

Im Jahr 1907 geboren, ist Bruno das jüngste Kind von Giovanni Giacometti.Er stand seinem Vater und den beiden Brüdern oft Modell, entschied sich aber nicht wie sie für eine Laufbahn als Künstler, sondern er wurde Architekt.Zu seinen wichtigsten Bauten gehören das Zürcher Hallenstadion und der Schweizer Pavillon an der Biennale Venedig.

Das Buch illustriert das künstlerische Schaffen der fünf Giacomettis mit zahlreichen Abbildungen, darunter einige, die bislang kaum bekannt sind. Die Texte sind eher kurz gehalten und auf schlüssige Kapitel verteilt, die auch das Umfeld des jeweiligen Giacometti beleuchten.

Damit geht das Werk über die bloss biografische Darstellung hinaus. Das über 250-seitige Buch ist Bildband und Biografie zugleich und wird dieser aussergewöhnlichen Künstlerdynastie endlich gerecht.

Von Raphael Suter, Basler Zeitung 8.6.18

Beat Stutzer, Peter Knapp:
«Les cinq Giacometti de Stampa.» Editions du Chêne.

Ausstellung zu Alberto Giacometti: «Paris sans fin» von Littmann Kulturprojekte in der Central Station.

mehr zu CENTRAL STATION, Basel 2016 bis Ende 2018

Bilder